Isabella Straub

Der Female Gaze ist ein Human Gaze.

Das ist Isabella Straub:

Eine waschechte Wienerin, die in diesem Jahr (2024) die Stadtschreiberin der Hansestadt Hamburg war.

Ich lernte Isabella in der Galerie der Gegenwart bei einer gemeinsamen Lesung mit den Fantastischen Teens unter der Moderation von Linda Zervakis kennen.

Isabella Straub war so freundlich  für sich und ihre Arbeit  die Perspektive des FEMALE GAZE einzunehmen.

  1. Was bedeutet für dich der Female Gaze?

Ein interessanter Begriff. Inwieweit unterscheidet sich der weibliche vom männlichen Blick? Und tut er das von Beginn an oder ist er das Ergebnis von Sozialisation? Ich bin ja davon überzeugt, dass alle menschlichen Wesen, egal welchen Geschlechts, mehr eint als trennt. Andererseits glaube ich, dass das Subjekt, zu dem man „ich“ sagt, sich im Laufe des Lebens mehrmals – um nicht zu sagen: ständig – neu zusammensetzt. Ich bin nicht dieselbe, die ich vor fünf Jahren war, die sich wiederum von der unterscheidet, die ich vor zwanzig Jahren war. Die Bücher, die ich vor zehn Jahren geschrieben habe, würde ich heute nicht mehr so schreiben. Mehr noch: Ich habe damit nichts mehr zu tun. Ganz nach Rimbaud: „Ich ist ein anderer“.
Das bedeutet auch, dass mein Blick vor zehn Jahren ein anderer war als er es heute ist. Das, was ich damals wahrgenommen habe, gilt heute nicht mehr in derselben Weise. So ist auch weibliche Blick ein ständig sich neu zusammensetzender, der sich aus Erfahrungen, Wertvorstellungen und -urteilen, Erinnerungen und dem kollektiven Unbewussten speist.    

2. Wer hat dich und deine literarische Arbeit geprägt?

Ganz am Anfang meines Schreibens stand Zeruya Shalevs Roman „Liebesleben“. Das war wie eine Epiphanie. Mein Ex hat mir das Buch vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt, das weiß ich noch. Ich erinnere mich an das Erstaunen, das mich erfasst hat beim Lesen dieser sprudelnden, melodiösen Prosa. Was für Sätze! Was für ungewöhnliche Bilder! Das ist natürlich auch der wunderbaren Übersetzung aus dem Hebräischen von Miriam Pressler geschuldet, die leider nicht mehr lebt. Sie sagte dazu: „Beim Übersetzen komme ich mir vor wie ein Musiker, der eine fremde Komposition interpretiert. Für mich ist das Übersetzen nicht nur eine der schönsten, sondern auch eine der wichtigsten Tätigkeiten, die es gibt. Übersetzte Texte können Aufgaben übernehmen, die die eigene Literatur nicht leisten kann. Bücher aus fremden Literaturen bauen Fremdheiten ab, wir erweitern durch sie unseren – nicht nur literarischen – Horizont.“ Seit Pressler (die auch Autorin war) nicht mehr übersetzt, ist Shalev für mich unlesbar geworden. Daran sieht man auch, welchen nicht zu überschätzenden Wert ÜbersetzerInnen haben.
Die Bücher, die mich heute faszinieren, sind die, die nicht die Welt verdoppeln, in der wir leben, sondern jene, die mir eine vollkommen andere Welt zeigen, durch die ich unsere Welt besser verstehen kann. Im Moment sind das etwa die Stories des US-Amerikaners George Saunders oder die Romane des rumänischen Autors Mircea Cărtărescu. Am meisten gelernt übers Dialog-Schreiben habe ich übrigens von Miranda July.

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3. Kann der Female Gaze auch von Männern eingenommen werden?

Die Frage ist doch: Kann irgendwer den Blick einer/eines anderen einnehmen? Ich z.B. versuche, den Male Gaze nachzuvollziehen, wenn ich aus der Perspektive eines Mannes schreibe. Dasselbe wird auch passieren, wenn ein männlicher Autor aus Frauenperspektive schreibt. Also: Ja, der Female Gaze kann auch von Männern eingenommen werden.

4. Könnten deine Texte auch von einem Mann geschrieben werden?

Ich glaube grundsätzlich nicht, dass ein Text von jemand anderem als der Autorin/dem Autor geschrieben werden kann.

5. Was wäre das erste, was du als Bundeskanzlerin veranlassen würdest?

Bezahlbaren Wohnraum mit Spezialförderungen für Wohn-Experimente.

6. Wie erlebst du das Thema Familienplanung als Autorin?

Das ist bei mir ja schon lange her. Und es war nicht einfach. Schreibzeit war gestohlene Zeit. Viele Angebote für AutorInnen, vor allem Residenzen, hätte ich nicht wahrnehmen können, die waren für mich als Alleinerzieherin völlig Out of reach. Schön finde ich daher, dass es heute Initiativen gibt wie „Other writers need to concentrate – Netzwerk schreiben & care“, die u.a. spezifische Angebote für AutorInnen mit Kindern auflisten und Bewusstsein schaffen.

7. Reagieren Männer und Frauen unterschiedlich auf deine Texte? Wenn ja, wie?

Jede/r mit seinem Blick. Ein Mann hat mir mal gesagt, dass ich die Männerperspektive so realistisch geschildert habe. Das hat mich sehr gefreut. Weil es ja auch zeigt, dass der Female Gaze ein Human Gaze ist.

8. Was wir über dich wissen müssen…

Ich habe das Stricken wiederentdeckt. Sehr meditativ!

9. Was schließt der Literaturbegriff für dich ein – was schließt er aus?

Eine Frage der Intention. Glückskekssprüche und Beipackzettel würde ich jetzt nicht als Literatur bezeichnen, wenn aber etwa AutorInnen sie konzipieren, dann werden sie zu solcher. Natürlich nicht immer und notwendigerweise – was ich meine ist, dass die Gattung letztlich unerheblich ist. Ich denke dabei etwa an die literarischen „Bergdoktor“-Heftchen von Marlene Streeruwitz oder an Clemens Setz, der gerade bei Suhrkamp seine Twitter-Gedichte veröffentlicht hat („Das All im eignen Fell“).

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10. Gibt es genderspezifische Aspekte in deinen Texten?

Ich denke schon. Im Grund genommen geht es in Geschichten immer um Verwandlung. Etwas verwandelt sich von einer Form in eine andere. In meinem letzten Romanprojekt hatte ich als Protagonistin u.a. eine 63jährige Hausmeisterin; eine Frau, mit der mich oberflächlich nicht viel verbindet. Beim Schreiben merkte ich dann, wie wichtig es war für sie, sich zu verwandeln, eine anderen zu werden. Das hört doch nie auf! Wir sind nie „fertig“, wir haben uns nie genug verwandelt. Ich habe mir quasi mein eigenes Role Model erschrieben. Denn wir Frauen haben nicht viele Vorbilder, die uns zeigen, wie man gut und frei altert. Das ist ein Thema, das mich fasziniert.


11. Beschreibe deinen literarischen Schaffensprozess…

Hinsetzen, Laptop einschalten, sitzenbleiben. Dazwischen: Inspiration einholen. Meine größte Quelle dafür ist die zeitgenössische bildende Kunst.


12. Als Stadtschreiberin für Hamburg hast du einen frischen und unverbrauchten Blick auf die Stadt. Was fällt dir auf?
Hintergrund – Recherche des FEMLE GAZE:
Gerade in Wien wurde in den letzten zwanzig Jahren die Stadt nach feministischen Gesichtspunkten geplant.
Hierbei geht es unter anderem um kurze Wege, breite Gehsteige, flexible Grundrisse für Wohnungen und die Nutzung von Parks. Städte sind meist an dem Modell: Mann fährt mit dem Auto zur Arbeit, muss bequem und einfach dorthin kommen. An alle anderen, die in der Stadt den Alltag gestalten, egal ob Mann oder Frau, wurde nicht gedacht. Dementsprechend sind die Gehsteige zu schmal für einen Kinderwagen, einen Erwachsenen, der diesen schiebt und dem älteren Kind, das an der Hand läuft.

Frage: Welche Note würdest du Hamburg aus weiblicher Perspektive geben? Und warum?

Antwort von Isabella Straub: Ich verfolgte die zeitgenössische Baukultur mit großem Interesse. Das Wiener Architekturzentrum AZW ist da sehr gut aufgestellt und zeigt regelmäßig die PreisträgerInnen großer Wettbewerbe, etwa des „Mies van der Rohe Awards“. Man wird mitunter den Eindruck nicht los, von feindlicher, kommunikationszerstörender Architektur umgeben zu sein, die Begegnung nicht fördert, sondern aktiv verhindert. Da tut es gut, Alternativen zu sehen.
Wenn ich zurückdenke an Hamburg, dann habe ich eins vor Augen: grün. Der Blick in Baumkronen. Die vielen Alleen und Parks.

Isabella Straub in Hamburg


Erst kürzlich habe ich ein aufschlussreichse Sachbuch gelesen: „Psychogeographie – Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst“. Autor und Neurowissenschaftler Colin Ellard führt den Erholungseffekt, der dadurch entsteht, dass wir auf Grün schauen, auf die fraktalen Eigenschaften der Natur zurück, auf ihre Selbstähnlichkeit. Durch einen Naturraum bewegen wir uns „unwillkürlich aufmerksam“, unser Nervensystem kann sich beruhigen, während wir in einer Stadt ständig selektiv aufmerksam sein müssen, um Gefahren schnell zu erkennen.

In Hamburg habe ich in der Nähe einer stark befahrenen Kreuzung gewohnt, an der sich drei Straßen gekreuzt haben. Wollte man auf die andere Seite, musste man mehrere Fahrbahnen mit kurz geschalteten Ampeln und unterschiedlich verlaufende Fahrradwege überqueren. Ich erinnere mich an ein Schild, das diese Kreuzung „als eine der gefährlichsten Kreuzungen für sehbehinderte Menschen überhaupt“ ausgewiesen hat. Es war tatsächlich so, dass man auch als Sehende/r extrem aufpassen musste, nichts und niemanden zu übersehen. Das ist es, was in einer städtischen Umgebung Stress erzeugt. Und dann gab es da noch den Blick aus der Wohnung auf Laubbäume. Das genaue Gegenteil.


Hamburg würde aus meiner weiblichen Sicht eine sehr gute Note von mir erhalten. Nie habe ich mich unsicher gefühlt. Ich finde die Lebensräume in der Stadt wunderbar abwechslungsreich: Grün, Wasser, alt, neu. Und, was mir wichtig ist: Es gibt zahlreiche Aufenthalts- und Arbeitszonen ohne Konsumzwang wie die Bücherhallen, die Staatsbibliothek, den Freiraum im Museum für Kunst und Gewerbe, den Kreativplaneten Jupiter etc. Auch das ist Lebens- und Aufenthaltsqualität.  

Isabella Straub liest am Elbstrand zu „Dichter an der Elbe“. Ein Lesungs-Format des Writers Room. Fotocredit: Hartmut Pospiech

Vielen Dank, liebe Isabella, dass du den FEMALE GAZE über dich und deine Arbeit für uns eingenommen hast.

Und… am 24.02.2025 erscheint Isabella Straubs neuer Roman:

Nullzone

Zudem liefert Isabella  Creative Writing-Häppchen direkt auf euren Bildschirm, live und in Farbe. Mini-Workshops, die sich „Textsushi Brunch“, „Textsushi Takeaway“ oder „Running Textsushi“ nennen. Für den größeren Schreibhunger wird es Textsushi-Rollen und Bento-Boxen geben.

Wer direkt Appetit bekommt, der möge sich bei Isabella per PN über ihr Instagram-Profil: @isabella_straub für ihren Newsletter anmelden.

Mehr über Isabella erfahrt ihr auf ihrer Website: Isabella Straub.

Der Female Gaze auf Maria und Carmen

Der Female Gaze bezeichnet eine Haltung, die sich konträr zum Male Gaze stellt. Der Begriff des Male Gaze wurde in den 70er Jahren in der Film- und Werbeindustrie bekannt. Gemeint ist, dass in Filmen oftmals Frauen nicht als Hauptdarstellerinnen agierten, sondern das unterstützende Beiwerk des Mannes waren.

Im Juni 2022 erreichte mich eine besondere Anfrage. Die Dramaturgin Sabrina Zwach fragte, ob ich einen Female Gaze auf die Marienstatue für die Carmen-Inszenierung in der Hamburger Staatsoper werfen wolle, die der Regisseur Herbert Fritsch in der Oper präsentieren würde.
Da ich ein großes Herz für die Heilige Maria habe (und Devotionalien, Reliquien, sowie alles Sakrale schätze), sagte ich sehr gerne zu.
Daraus ist ein Interview/Essay geworden, der auch mir interessante Einblicke in die Bedeutung der Marienverehrung im modernen Kontext verschaffte.
Veröffentlicht wurde der Text im Programmheft der Oper:

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© Silke Tobeler

Lest selbst:

Der Female Gaze auf Maria und Carmen

Unter dem Aspekt des Female Gaze interessiert es mich sehr, von Ihnen zu erfahren, was ein weiblicher Blick im Kontext der Kunstaneignung ist oder sein kann und wie weibliche Figuren angeblickt werden.

Der Female Gaze bezeichnet eine Haltung, die sich konträr zum Male Gaze stellt. Der Begriff des Male Gaze wurde in den 70er Jahren in der Film- und Werbeindustrie bekannt. Gemeint ist, dass in Filmen oftmals Frauen nicht als Hauptdarstellerinnen agierten, sondern das unterstützende Beiwerk des Mannes waren. Auch wenn sich in der Autowerbung eine leicht bekleidete Frau auf der Kühlerhaube räkelte, war nicht sie die umworbene Kundin; vielmehr sollte der kaufende Mann angesprochen werden.
Und in der Kunst verhielt es sich lange Zeit nicht anders. Nicht umsonst stellten die Guerilla Girls die Frage, ob Frauen nur dann ins Museum gelangen, wenn sie nackt sind.
Meret Oppenheim war als schöne Nackte auf der Fotografie Man Ray´s bekannter, als für ihr erst heutzutage hochgelobtes, eigenes künstlerisches Werk. Obwohl sie schon früh als Kreative Teil des Kreises der Pariser Surrealisten war.
Louise Bourgeois, die ebenso fast ein ganzes Jahrhundert als Kunstwirkende gearbeitet hatte, erhielt erst im hohen Alter dafür internationale Anerkennung.
Gerade Louise Bourgeois gab mit ihren Arbeiten einen Blick auf weibliche Themen wieder, den vielleicht nicht jeder sehen wollte. Ihre monumentale Spinnenfiguren repräsentieren die Ambivalenz einer Mütterlichkeit, welche den Nachwuchs nicht nur versorgen, sondern auch verspeisen könnte.
Künstlerinnen spiegelten zudem in ihrer Performancekunst den entwürdigenden Aspekt des Betrachtetwerdens. In „Rhythm 0“ ließ sich Marina Abramović von ihrem Publikum mit unterschiedlichen Gegenständen (von der Feder, über das Messer, bis zur Pistole) berühren oder gar verletzen. Der Betrachter wurde so von der Künstlerin aus dem Schatten der vermeintlichen voyeuristischen Passivität in das aggressive Handeln gegen das ,Objekt‘ geführt.
Mit dem Female Gaze erobern sich Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper und ihr Leben zurück. Damit schaffen sie eine neue Perspektive auf ihr Werk und die darin enthaltenen ästhetischen und gesellschaftlichen Themen.

Mich interessiert die Projektionsfläche, die weibliche Figuren speziell im kirchlich-religiösen Kontext bieten?

Drei Frauen spielen eine entscheidende Rolle in der christlichen Lehre.

  1. Eva, im Alten Testament, die Adam verführte und damit die ganze Menschheit zu Fall brachte.
  2. Maria, die Mutter Gottes im Neuen Testament, die jungfräulich Gott selbst empfing und zur Welt brachte.

Maria Magdalena, die eine „gefallene Frau“ war, aber von Jesus Christus selbst als Jüngerin in seinen Kreis mitaufgenommen wurde. Sie war die erste Frau/der erste Mensch, der Jesus nach seiner Auferstehung begegnete. Allerdings warnt der Auferstandene Maria Magdalena davor, ihn zu berühren. Wohingegen der ungläubige Thomas seine Finger in Christi Wunden legen darf.
Als Projektionsfläche bewegen sich weibliche Figuren (in der christlichen Religion) einerseits zwischen dem jungfräuliches Sehnsuchtswesen, verkörpert in der Mutter Gottes, die den Messias durch den Heiligen Geist empfängt. Und andererseits als Verführerin Eva, die die Unschuld, beziehungsweise Reinheit des Mannes gefährdet, sowie Maria Magdalena, die den Menschen Jesus zwar salben, aber den auferstandenen Heiland nicht berühren darf.Zudem gilt die christliche Gemeinde, beziehungsweise Kirche, laut der Paulusbriefe, als die Braut Christi, vereint als ein Leib. Paulus fügt hinzu, dass Christus das Haupt, die Gemeinde der Leib sei und leitet daraus ab, dass in der Ehe der Mann das Haupt und die Frau der Leib wäre, was die patriarchalen Voraussetzungen des christlichen Glaubens zementiert.

Weiter würde ich gerne wissen, was einzigartig an der Maria-Darstellung ist? 

Maria ist eine Figur, die den Kreislauf des Lebens widerspiegelt.
Als Mutter Gottes sieht man sie mit dem Jesuskind, in inniger Verbindung, sie hält Gott in ihren Armen, ist die Gottesgebärerin.
In den Pietà-Darstellungen wird Maria zur Mater Dolorosa, als Schmerzensmutter gezeigt. Sie bettet den Leichnam Christi auf ihrem Schoß.
Somit begleitet die Mutter Gottes ihren Sohn in und aus der Welt. Leben und Tod liegen in ihrem Schoß.
Desweiteren wird gerade in der östlichen Kirche Maria selbst als Himmelsgöttin dargestellt. Häufige Attribute sind der
Kranz mit zwölf Sternen um ihr Haupt und die Mondsichel zu ihren Füßen. Als Himmelskönigin kann sie auch ein Zepter und eine Erd- bzw. Weltkugel halten.

Gibt es einen Unterschied zwischen Maria und Madonna?

Ein Bildnis wird meist dann als Madonnenbild oder -figur bezeichnet, wenn die Gottesmutter mit dem Jesuskind gezeigt wird. Ein Marienbildnis kann sowohl Maria mit dem Kind im Arm, als auch als eine allein für sich stehende Heilige darstellen.

Gibt es andere vergleichbare Figuren im kirchlichen Kontext?

Im römisch-katholischen Kontext gilt Maria als eine Heilige, zu der gebetet werden kann. Ihre Statuen und Bilder sind meist mit Reliquien ausgestattet, die dem Glauben nach, Wunder bewirken können. Ein kompliziertes Procedere überprüft die Authentizität dieser Wunder. Nicht nur Maria ist eine der Heiligen, die bei Fürbitten in der Not helfen kann. Über die letzten zweitausend Jahre sind unzählige andere Fürsprecher*innen, ebenso mit wunderwirksamen

Reliquien ausgestattet, außerbiblisch dazugekommen. Frauen und auch Männer, die als Märtyrer gelitten, auf wundersame Weise Menschen geholfen, oder Ungläubige bekehrt haben sollen. Um nur einige zu nennen: Ursula von Köln mit ihren elftausend Jungfrauen, Franz von Assisi, der mit Tieren sprach und Bernadette de Lourdes, der Maria erschien. Bei dieser Erscheinung fand Bernadette eine Wasserquelle, die bis heute Menschen heilen soll.

Meine persönliche Favoritin ist die Karmeliternonne: Teresa von Avila, die so mit dem Heiligen Geist erfüllt gewesen sein soll, dass sie unter der Decke schwebte. Neun Monate nach Teresa von Avilas Tod wurden die irdischen Überreste der Heiligen hervorgeholt. Ihr Leichnam war jungfräulicher als der der Mutter Gottes. Keine Verwesung und sie duftete nach Rosen. Man verteilte die Überreste als Reliquie auf viele Kirchen. Der spanische Diktator Franco nahm z.B. ihre Hand an sich, bewahrte sie an seinem Bett auf und starb mit ihr. Die Nonnen holten sich die Hand nach Francos Tod zurück. Bis heute wird diese in einem silbernen, reich verzierten Handschuh in einer Kirche in Ronda/Andalusien aufbewahrt.Was heißt die Omnipräsenz von Maria (am Straßenrand, in der Kirche, an Pilgerstätten, im Kontext von Schmuck und Devotionalien) für weibliche Identitätsbildung unter Christinnen?

Die Götter und Göttinnen der sogenannten Heiden, denen das Christentum meist aufgedrängt wurden, haben bekannterweise

ihren eigenen Weg in die vorgegebene Frömmigkeit gefunden. Dazu gehört im ganz großen Maße die Marienverehrung. Leider wurde die Stärke, die diese Frauen in Form von Fruchtbarkeit, als erfolgreiche Jägerinnen und Inbegriff der Weisheit, abgesprochen. Angebetet wurde fortan nur die Empfängnis der Mutter Gottes. Diese wurde nicht in ihrer Opulenz gefeiert, sondern keusch und jungfräulich inszeniert.

In Folge dessen werden bis heute Mädchen zu ihrem zehnten oder elften Lebensjahr als weißgekleidete Bräute zur Erstkommunion an den Altar geführt, wo sie die Hostie, den Leib Christi, empfangen. Weiß als Farbe der Unschuld gibt diesen Mädchen vor, dass sie sich vor der Sünde bewahren müssen. Wenn es um die Identitätsbildung geht, so wird in allen Darstellungen Marias Reinheit, der nachzueifern ist, vorgegeben. Desweiteren wird Maria stets ernsthaft und leidend gezeigt. Ihre Statuen bluten und weinen. Gerade das Phänomen der Stigmatisierung, (Auftreten von Wunden am Körper eines lebenden Menschen) erleb(t)en vor allem Frauen. Wenn man dies psychologisch interpretiert, so könnte man meinen, dass die Stigmatisierung erstens der Frau eine Aufmerksamkeit geben kann, die ihr sonst in der patriarchalen Welt nicht zuteil wird und zweitens unterstreicht die per se „gefallene Frau“ mit dem offensichtlichen Leiden ihre Reinheit.

All die Bildnisse, Rosenkränze, Medaillons mit dem Abbild der Mutter Gottes werden in der Regel als Schutzfunktion und für die Fürbitte genutzt. Der Weiblichkeit selbst wird damit nicht gehuldigt.

Hat die Mariendarstellung für unsere heutige Bildwelt noch Relevanz?

In den 80er Jahren wurden Rosenkränze, Mariendarstellungen, Kreuze (umgedreht, aber auch „richtigherum“) vor allem in der Darkwaveszene als Ausdruck düsterer Romantik genutzt.

Die Popsängerin Madonna (schon der Name ist Programm) trieb das Spiel auf die Spitze, indem sie sich in Dessous gekleidet und mit Rosenkränzen behangen, in ihren Videos auf dem Bett räkelt und von dem Genuss sich wie eine Jungfrau zu fühlen, singt. Lenny Kravitz trug Rosenkränze und inszenierte sich als ein sexy Jesus. In den 90er Jahren mischten sich Mariendarstellungen mit Bollywoodästhetik und bis in die Nullerjahre hinein wurden ikonografische Marienbilder auf T-Shirts und Kleidern getragen. Schon lange war es kein Tabubruch mehr, da die Kirche ihren Einfluss in der westlichen Welt stark eingebüßt hat.

Mir erscheint es so, als wenn in den letzten zwanzig Jahren weniger Mariendarstellungen im modernen Kontext genutzt werden. Dennoch fallen mir zwei sehr unterschiedliche aktuelle Marienreferenzen ein: 1. Die „Bitch Bibel“ von Katja Krasavice und die Graphic Novel „I´m every Woman“ von Liv Strömquist. Bei der „Bitch Bibel“ handelt es sich um die Autobiografie der Sex-Youtuberin. Liv Strömquist setzt sich in ihrem Sachbuch mit dem Mythos des männlichen Genies auseinander, indem sie die Geschichte aus weiblicher Perspektive umschreibt.

Können Sie sich vorstellen, warum der Regisseur und Bühnenbildner Herbert Fritsch der CARMEN eine MARIA beistellt?

Carmen steht für eine freiheitsliebende, verführerische Frau. Ganz das Gegenteil zu dem, was die Figur Maria ausmacht. Maria gilt als Fürsprecherin für die Menschen.

Das Ave-Maria Gebet: „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes“ kann auf die Handlung der Oper hinweisen, bei der Carmen im letzten Akt von José ermordet wird. Die weibliche Kraft, mit der Carmen die Männer verrückt macht, wird von Marias Fürsprache ausgeglichen.

Ich würde mir wünschen, dass Maria am Schluss eine Predigt hält, in der Carmen rehabilitiert und die Freiheitsliebe als natürlicher und nachzueifernder Wunsch propagiert wird.

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© Silke Tobeler