Isabella Straub

Der Female Gaze ist ein Human Gaze.

Das ist Isabella Straub:

Eine waschechte Wienerin, die in diesem Jahr (2024) die Stadtschreiberin der Hansestadt Hamburg war.

Ich lernte Isabella in der Galerie der Gegenwart bei einer gemeinsamen Lesung mit den Fantastischen Teens unter der Moderation von Linda Zervakis kennen.

Isabella Straub war so freundlich  für sich und ihre Arbeit  die Perspektive des FEMALE GAZE einzunehmen.

  1. Was bedeutet für dich der Female Gaze?

Ein interessanter Begriff. Inwieweit unterscheidet sich der weibliche vom männlichen Blick? Und tut er das von Beginn an oder ist er das Ergebnis von Sozialisation? Ich bin ja davon überzeugt, dass alle menschlichen Wesen, egal welchen Geschlechts, mehr eint als trennt. Andererseits glaube ich, dass das Subjekt, zu dem man „ich“ sagt, sich im Laufe des Lebens mehrmals – um nicht zu sagen: ständig – neu zusammensetzt. Ich bin nicht dieselbe, die ich vor fünf Jahren war, die sich wiederum von der unterscheidet, die ich vor zwanzig Jahren war. Die Bücher, die ich vor zehn Jahren geschrieben habe, würde ich heute nicht mehr so schreiben. Mehr noch: Ich habe damit nichts mehr zu tun. Ganz nach Rimbaud: „Ich ist ein anderer“.
Das bedeutet auch, dass mein Blick vor zehn Jahren ein anderer war als er es heute ist. Das, was ich damals wahrgenommen habe, gilt heute nicht mehr in derselben Weise. So ist auch weibliche Blick ein ständig sich neu zusammensetzender, der sich aus Erfahrungen, Wertvorstellungen und -urteilen, Erinnerungen und dem kollektiven Unbewussten speist.    

2. Wer hat dich und deine literarische Arbeit geprägt?

Ganz am Anfang meines Schreibens stand Zeruya Shalevs Roman „Liebesleben“. Das war wie eine Epiphanie. Mein Ex hat mir das Buch vor vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt, das weiß ich noch. Ich erinnere mich an das Erstaunen, das mich erfasst hat beim Lesen dieser sprudelnden, melodiösen Prosa. Was für Sätze! Was für ungewöhnliche Bilder! Das ist natürlich auch der wunderbaren Übersetzung aus dem Hebräischen von Miriam Pressler geschuldet, die leider nicht mehr lebt. Sie sagte dazu: „Beim Übersetzen komme ich mir vor wie ein Musiker, der eine fremde Komposition interpretiert. Für mich ist das Übersetzen nicht nur eine der schönsten, sondern auch eine der wichtigsten Tätigkeiten, die es gibt. Übersetzte Texte können Aufgaben übernehmen, die die eigene Literatur nicht leisten kann. Bücher aus fremden Literaturen bauen Fremdheiten ab, wir erweitern durch sie unseren – nicht nur literarischen – Horizont.“ Seit Pressler (die auch Autorin war) nicht mehr übersetzt, ist Shalev für mich unlesbar geworden. Daran sieht man auch, welchen nicht zu überschätzenden Wert ÜbersetzerInnen haben.
Die Bücher, die mich heute faszinieren, sind die, die nicht die Welt verdoppeln, in der wir leben, sondern jene, die mir eine vollkommen andere Welt zeigen, durch die ich unsere Welt besser verstehen kann. Im Moment sind das etwa die Stories des US-Amerikaners George Saunders oder die Romane des rumänischen Autors Mircea Cărtărescu. Am meisten gelernt übers Dialog-Schreiben habe ich übrigens von Miranda July.

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3. Kann der Female Gaze auch von Männern eingenommen werden?

Die Frage ist doch: Kann irgendwer den Blick einer/eines anderen einnehmen? Ich z.B. versuche, den Male Gaze nachzuvollziehen, wenn ich aus der Perspektive eines Mannes schreibe. Dasselbe wird auch passieren, wenn ein männlicher Autor aus Frauenperspektive schreibt. Also: Ja, der Female Gaze kann auch von Männern eingenommen werden.

4. Könnten deine Texte auch von einem Mann geschrieben werden?

Ich glaube grundsätzlich nicht, dass ein Text von jemand anderem als der Autorin/dem Autor geschrieben werden kann.

5. Was wäre das erste, was du als Bundeskanzlerin veranlassen würdest?

Bezahlbaren Wohnraum mit Spezialförderungen für Wohn-Experimente.

6. Wie erlebst du das Thema Familienplanung als Autorin?

Das ist bei mir ja schon lange her. Und es war nicht einfach. Schreibzeit war gestohlene Zeit. Viele Angebote für AutorInnen, vor allem Residenzen, hätte ich nicht wahrnehmen können, die waren für mich als Alleinerzieherin völlig Out of reach. Schön finde ich daher, dass es heute Initiativen gibt wie „Other writers need to concentrate – Netzwerk schreiben & care“, die u.a. spezifische Angebote für AutorInnen mit Kindern auflisten und Bewusstsein schaffen.

7. Reagieren Männer und Frauen unterschiedlich auf deine Texte? Wenn ja, wie?

Jede/r mit seinem Blick. Ein Mann hat mir mal gesagt, dass ich die Männerperspektive so realistisch geschildert habe. Das hat mich sehr gefreut. Weil es ja auch zeigt, dass der Female Gaze ein Human Gaze ist.

8. Was wir über dich wissen müssen…

Ich habe das Stricken wiederentdeckt. Sehr meditativ!

9. Was schließt der Literaturbegriff für dich ein – was schließt er aus?

Eine Frage der Intention. Glückskekssprüche und Beipackzettel würde ich jetzt nicht als Literatur bezeichnen, wenn aber etwa AutorInnen sie konzipieren, dann werden sie zu solcher. Natürlich nicht immer und notwendigerweise – was ich meine ist, dass die Gattung letztlich unerheblich ist. Ich denke dabei etwa an die literarischen „Bergdoktor“-Heftchen von Marlene Streeruwitz oder an Clemens Setz, der gerade bei Suhrkamp seine Twitter-Gedichte veröffentlicht hat („Das All im eignen Fell“).

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10. Gibt es genderspezifische Aspekte in deinen Texten?

Ich denke schon. Im Grund genommen geht es in Geschichten immer um Verwandlung. Etwas verwandelt sich von einer Form in eine andere. In meinem letzten Romanprojekt hatte ich als Protagonistin u.a. eine 63jährige Hausmeisterin; eine Frau, mit der mich oberflächlich nicht viel verbindet. Beim Schreiben merkte ich dann, wie wichtig es war für sie, sich zu verwandeln, eine anderen zu werden. Das hört doch nie auf! Wir sind nie „fertig“, wir haben uns nie genug verwandelt. Ich habe mir quasi mein eigenes Role Model erschrieben. Denn wir Frauen haben nicht viele Vorbilder, die uns zeigen, wie man gut und frei altert. Das ist ein Thema, das mich fasziniert.


11. Beschreibe deinen literarischen Schaffensprozess…

Hinsetzen, Laptop einschalten, sitzenbleiben. Dazwischen: Inspiration einholen. Meine größte Quelle dafür ist die zeitgenössische bildende Kunst.


12. Als Stadtschreiberin für Hamburg hast du einen frischen und unverbrauchten Blick auf die Stadt. Was fällt dir auf?
Hintergrund – Recherche des FEMLE GAZE:
Gerade in Wien wurde in den letzten zwanzig Jahren die Stadt nach feministischen Gesichtspunkten geplant.
Hierbei geht es unter anderem um kurze Wege, breite Gehsteige, flexible Grundrisse für Wohnungen und die Nutzung von Parks. Städte sind meist an dem Modell: Mann fährt mit dem Auto zur Arbeit, muss bequem und einfach dorthin kommen. An alle anderen, die in der Stadt den Alltag gestalten, egal ob Mann oder Frau, wurde nicht gedacht. Dementsprechend sind die Gehsteige zu schmal für einen Kinderwagen, einen Erwachsenen, der diesen schiebt und dem älteren Kind, das an der Hand läuft.

Frage: Welche Note würdest du Hamburg aus weiblicher Perspektive geben? Und warum?

Antwort von Isabella Straub: Ich verfolgte die zeitgenössische Baukultur mit großem Interesse. Das Wiener Architekturzentrum AZW ist da sehr gut aufgestellt und zeigt regelmäßig die PreisträgerInnen großer Wettbewerbe, etwa des „Mies van der Rohe Awards“. Man wird mitunter den Eindruck nicht los, von feindlicher, kommunikationszerstörender Architektur umgeben zu sein, die Begegnung nicht fördert, sondern aktiv verhindert. Da tut es gut, Alternativen zu sehen.
Wenn ich zurückdenke an Hamburg, dann habe ich eins vor Augen: grün. Der Blick in Baumkronen. Die vielen Alleen und Parks.

Isabella Straub in Hamburg


Erst kürzlich habe ich ein aufschlussreichse Sachbuch gelesen: „Psychogeographie – Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst“. Autor und Neurowissenschaftler Colin Ellard führt den Erholungseffekt, der dadurch entsteht, dass wir auf Grün schauen, auf die fraktalen Eigenschaften der Natur zurück, auf ihre Selbstähnlichkeit. Durch einen Naturraum bewegen wir uns „unwillkürlich aufmerksam“, unser Nervensystem kann sich beruhigen, während wir in einer Stadt ständig selektiv aufmerksam sein müssen, um Gefahren schnell zu erkennen.

In Hamburg habe ich in der Nähe einer stark befahrenen Kreuzung gewohnt, an der sich drei Straßen gekreuzt haben. Wollte man auf die andere Seite, musste man mehrere Fahrbahnen mit kurz geschalteten Ampeln und unterschiedlich verlaufende Fahrradwege überqueren. Ich erinnere mich an ein Schild, das diese Kreuzung „als eine der gefährlichsten Kreuzungen für sehbehinderte Menschen überhaupt“ ausgewiesen hat. Es war tatsächlich so, dass man auch als Sehende/r extrem aufpassen musste, nichts und niemanden zu übersehen. Das ist es, was in einer städtischen Umgebung Stress erzeugt. Und dann gab es da noch den Blick aus der Wohnung auf Laubbäume. Das genaue Gegenteil.


Hamburg würde aus meiner weiblichen Sicht eine sehr gute Note von mir erhalten. Nie habe ich mich unsicher gefühlt. Ich finde die Lebensräume in der Stadt wunderbar abwechslungsreich: Grün, Wasser, alt, neu. Und, was mir wichtig ist: Es gibt zahlreiche Aufenthalts- und Arbeitszonen ohne Konsumzwang wie die Bücherhallen, die Staatsbibliothek, den Freiraum im Museum für Kunst und Gewerbe, den Kreativplaneten Jupiter etc. Auch das ist Lebens- und Aufenthaltsqualität.  

Isabella Straub liest am Elbstrand zu „Dichter an der Elbe“. Ein Lesungs-Format des Writers Room. Fotocredit: Hartmut Pospiech

Vielen Dank, liebe Isabella, dass du den FEMALE GAZE über dich und deine Arbeit für uns eingenommen hast.

Und… am 24.02.2025 erscheint Isabella Straubs neuer Roman:

Nullzone

Zudem liefert Isabella  Creative Writing-Häppchen direkt auf euren Bildschirm, live und in Farbe. Mini-Workshops, die sich „Textsushi Brunch“, „Textsushi Takeaway“ oder „Running Textsushi“ nennen. Für den größeren Schreibhunger wird es Textsushi-Rollen und Bento-Boxen geben.

Wer direkt Appetit bekommt, der möge sich bei Isabella per PN über ihr Instagram-Profil: @isabella_straub für ihren Newsletter anmelden.

Mehr über Isabella erfahrt ihr auf ihrer Website: Isabella Straub.