Silke Tobeler ist Autorin und wirft in ihrem Blog „Female Gaze“ einen weiblichen Blick auf Kunst, Literatur, Film und Ausstellungen. Inspiriert durch die weibliche Wahrnehmung von Ästhetik und auf der Suche nach revolutionärer Kunst, lädt sie zum Dialog ein. Welche Bedeutung hat der „Female Gaze“ in politischen und sozialen Zusammenhängen? Möchte dieser Blick den Spieß lediglich umdrehen und Männer objektifizieren? Über diese Fragen spricht die Autorin im Interview.
(Vorstellung: Sophie Bley
Fragen: Sophie Bley
Antworten: Silke Tobeler)
Liebe Silke, der Begriff „Female Gaze“ wird unterschiedlich interpretiert. Was bedeutet er für dich und welche Rolle spielt er in deiner Arbeit als Autorin und Kunstfreundin?
Für mich ist der „Female Gaze“ eine Haltung. Es geht darum, dass unsere Welt so gut wie immer aus der Perspektive der Männer dargestellt wird. Mein Anliegen ist es, das Ganze zu erweitern, um dem weiblichen Blick eine höhere Relevanz in unserer Gesellschaft zu schenken. An vielen Punkten leben wir bereits in einer gleichberechtigten Gesellschaft, aber sie ist aus dem gemacht, was Männer lange vorgegeben haben. Mir ist klargeworden, dass Frauen in der Kunst durchaus ein beliebtes Motiv sind, sie selbst aber selten die Schaffenden sind. Der Begriff „Female Gaze“ ist für mich eine Art Überschrift meiner eigenen Arbeit als Autorin und Bloggerin, mit der ich auf die weibliche Position und den weiblichen Blick aufmerksam machen möchte.
Was hat dich dazu inspiriert, deinen Blog „Female Gaze“ ins Leben zu rufen?
Mich hat schon immer interessiert, wie Künstlerinnen und Künstler arbeiten und wie Kunst entsteht. Die Idee hinter dem Blog war, dem Ganzen eine Bühne zu geben. Ich war zwar schon immer Feministin, aber lange auch der Auffassung, dass wir bereits in einer relativ gleichberechtigten Welt leben. Erst als ich Kinder bekommen habe und mein Leben plötzlich wirkte, als wäre ich in die 50er-Jahre zurückversetzt worden, veränderte sich mein Blick. Gebunden an die Erziehung meiner Kinder und den Haushalt wurde mir klar, dass die Welt zwar durch unsere Gesetzeslage emanzipiert wirkt, die Umsetzung von Gleichberechtigung jedoch noch nicht so weit ist, wie ich dachte. Diese Feststellung hat mich motiviert, mich in meinem Blog für Emanzipation stark zu machen. Der Ted Talk von Joey Soloway „The Female Gaze“ hat mich inspiriert, meinen Blog auch so zu nennen.
Mit meiner Arbeit möchte ich dem Weiblichen mehr Sichtbarkeit verschaffen und Freude und Stolz an der eigenen Sinnlichkeit vermitteln.
Du sagst von dir selbst, dass du mit einem weiblichen Blick auf Kunst, Kultur, Literatur, Medien und Unternehmen aller Art schaust. Was begeistert dich an der weiblichen Perspektive?
Ich habe mich lange gefragt, wie überhaupt ein Patriarchat entstehen kann, das die Hälfte der Menschheit ausschließt. Eine Theorie, auf die ich öfter gestoßen bin, ist, dass die Fähigkeit der Frauen, Leben zu schenken, bei den Menschen Angst auslöst, die das nicht tun können. Angst hat häufig dominantes und kontrollierendes Verhalten zur Folge, sodass Frauen den Stempel aufgedrückt bekommen haben, sie seien unberechenbar und anarchisch. Ich mag genau diese Unberechenbarkeit und diese Anarchie, die in uns Frauen steckt. Mit meiner Arbeit möchte ich dem Weiblichen mehr Sichtbarkeit verschaffen und Freude und Stolz an der eigenen Sinnlichkeit vermitteln. Mein Ziel ist es auch, zu untersuchen, was es braucht, um sich aus den zerstörerischen Elementen unserer Gesellschaft zu lösen, die auf Ausbeutung, Ausgrenzung, Profit und Gier ausgerichtet ist. Denn Frauen hatten in der Geschichte kaum Möglichkeiten dazu.
Wie wir die Gesellschaft sehen, hat viel mit Bildern zu tun, die uns im Alltag begegnen. Warum ist der weibliche Blick in diesem Zusammenhang wichtig?
Frauen verfügen erst seit rund hundert Jahren über grundlegende Rechte, wie beispielsweise wählen oder studieren zu können. In der Kunstbranche mussten sich Frauen zwischen einem Leben als Künstlerin oder Mutter entscheiden. Der „Female Gaze“ möchte aus dieser Norm ausbrechen und Lebensgestaltungen aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Außerdem hat der „Female Gaze“ Relevanz in Bereichen der Städteplanung, Sicherheitsvorkehrungen oder Gesundheit. Medikamente sind in ihrer Dosis in der Regel auf Männer ausgerichtet und Anschnallgurte in Autos sind für einen typisch männlichen Körperbau konzipiert. Der „Female Gaze“ kann hier neue Lösungsansätze finden und die Bedürfnisse aller Menschen genderkonform in gesellschaftliche Entscheidungen und Lebensgestaltungen miteinbeziehen.
Welche Kritik übst du an dem „Male Gaze“?
Ich kritisiere ganz klar die Arroganz und die Egozentrik des „Male Gaze“. Es gibt so viele verschiedene Menschen auf dieser Welt mit einzigartigen Lebensgeschichten, denen der „Male Gaze“ eine einzige Perspektive aufdrückt. Letztendlich spielt hier vor allem der Kapitalismus eine Rolle, an den das Patriarchat eng gekoppelt ist. Denn Männer fürchten in diesem Zusammenhang Macht und Möglichkeiten zu verlieren. Der weibliche Blick möchte jedoch niemanden in seinen oder ihren Rechten einschränken, sondern gemeinsam an Lösungen arbeiten, wie alle Menschen gleichberechtigt leben können – und dazu gehören natürlich auch Männer.
Diversität nimmt in der Kunst immer mehr Platz ein.
Der Ansatz des „Female Gaze“ ist es also, das Dogma „Male Gaze“ zu sprengen und in der Gesellschaft mehr Diversität zu zeigen. Siehst du in der Kunst, in den Medien und in unserer gesellschaftlichen Auffassung von Ästhetik positive Entwicklungen in diese Richtung?
Diversität nimmt in der Kunst immer mehr Platz ein. In Museen und Ausstellungen sind zunehmend Kunstwerke weiblicher Künstlerinnen zu finden, queere Personen oder Menschen mit Migrationshintergrund sind für Film- und Kunstpreisverleihungen nominiert und Diversität rückt immer mehr in den Fokus. Darüber hinaus hat sich die Sprache rund um dieses Thema weiterentwickelt. Es wird differenzierter über die weibliche Sexualität oder Menstruation gesprochen, Probleme wie die Gender-Pay-Gap oder Care-Arbeit werden benannt und kritisiert. Auf diese positiven Veränderungen müssen allerdings auch Taten folgen.
Kann der „Female Gaze“ in Kunst und Medien auch von Männern eingenommen werden?
Ich bin davon überzeugt, dass alle Menschen vom „Female Gaze“ profitieren können – auch Männer. Dem Anliegen, das Dogma des „Male Gaze“ zu erweitern, kann jeder Mensch nachgehen. Jeder Schritt in diese Richtung ist eine Bereicherung und jeder Mensch, unabhängig vom Geschlecht, von der Sexualität oder der Herkunft, kann sich dafür stark machen.
Welche Bedeutung hat der „Female Gaze“ deiner Meinung nach für junge Generationen?
Um die Bedeutung des „Female Gaze“ zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit der dritten Welle der Frauenbewegung auseinanderzusetzten. Diese ist im Gegensatz zu früheren Frauenbewegungen deutlich offener und setzt sich für mehr Selbstbestimmung und Diversität ein. Feminismus kann unterschiedlich interpretiert werden. Der „Female Gaze“ möchte jedoch betonen, dass Menschen nicht vorgeschrieben werden sollte, wie sie auszusehen haben oder wie sie ihre Sexualität ausleben sollten. Ich möchte jungen Menschen mitgeben, dass sie wachsam bleiben und weiterhin für ihre Rechte kämpfen, denn diese sind immer noch keine Selbstverständlichkeit.
Hast du als Expertin für unsere Leserinnen und Leser Empfehlungen aus Kunst, Literatur oder Film, die eine weibliche Perspektive einnehmen, bzw. den Female Gaze widerspiegeln?
Hier ein paar Empfehlungen für die Leserinnen und Leser, die am weiblichen Blick in Kunst, Film und Medien interessiert sind:
- „Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist: Ein Sachbuch über die Vulva. In diesem Buch geht es von Frauen in der Bibel über Freud und unbeholfenen Biologieunterricht bis hin zu aktuellen Tamponwerbungen.
- „Transparent“ von Joey Soloway: Eine Serie, die die großen Fragen der Identitäten Mann, Frau und Divers im Familienkontext abbildet.
- „Sex Education“ auf Netflix: Eine Serie, die den „Female Gaze“ aus vielen Perspektiven von Teenagern, Müttern, Vätern, Männern, Frauen und queeren Personen darstellt.
- Die Künstlerin Frida Kahlo: Sie war eine der ersten Künstlerinnen und Künstler, die ihre eigene Geschichte und ihr eigenes Leid in den Vordergrund ihrer Kunst gestellt hat.
- Die Künstlerin Meret Oppenheim: Eine Schweizer Künstlerin, die in ihrer Kunst viel mit Geschlechterrollen gespielt hat.
- Die Arte-Dokureihe „Naked“: Hier geht es um unterschiedliche patriarchale Verhältnisse in der Kunst und in Gesellschaften verschiedener Länder.